Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
10.12.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
10.12.1994

Hoffnungslos?

Hat man richtig gehört neulich in der Tagesschau? Da forderte der deutsche Bundespräsident: "Wo immer es geschieht, es nicht wieder geschehen zu lassen", das Schreckliche, die systematische Ausrottung, die ethnische Säuberung. Kaum war Zeit, dem Rätselwort nachzusinnen, als die Frau Moderatorin aus Budapest vermelden mußte, daß sich die KSZE-Mitglieder nicht einmal darauf einigen konnten, zum Krieg in Bosnien auch nur ein gemeinsames Wort zu verabschieden - geschweige denn dafür zu sorgen, was dort geschieht, nicht weiter geschehen zu lassen.
Ein Schock für alle, die nach dem "Versagen" der UN und NATO nun ihre Hoffnung auf die KSZE gesetzt hatten; denn die trägt doch ausdrücklich in ihrem Namen die Zusicherung, für Sicherheit und Zusammenarbeit sorgen zu wollen. Aber enthüllen sich nicht gegen allen Anschein in den beiden Meldungen der Tagesschau neue, das heißt realistischere Einstellungen zu jenem Geschehen, das wir Geschichte nennen?
Das Budapester Konferenzergebnis macht klar: Es ist besser, auf Friedensdeklamationen zu verzichten, wenn man nicht in der Lage ist, den Friedensforderungen auch friedensstiftende Maßnahmen folgen zu lassen. Und der Herr Bundespräsident hatte eben nicht unter situativem Druck in Rätseln gesprochen; denn in der Tat besteht nach geschichtlicher Erfahrung nur dort die Hoffnung, die Wiederkehr des Schrecklichen zu verhindern, wo es sich bereits ereignet hat.
Also ist es wohl vergeblich, von außen zu intervenieren, wo im Innern der Machtwahn sich austobt. Wer die Erfahrung des zerstörerischen Irrsinns nicht gemacht hat und wen diese Erfahrung nicht leitet, der ist weder mit gutem Zureden noch mit der Androhung von Strafe zu bändigen, zumal er damit rechnen kann, daß die Drohung von denen nicht wahrgemacht wird, die sich auf ihre Erfahrung im Elend des Krieges berufen! Denn nur die wollen den Frieden.
Noch wollen wir ihn. Noch leitet uns unsere Erfahrung. Noch bestärkt gerade das Eingeständnis der Ohnmacht, in Ex-Jugoslawien militärisch zu intervenieren, die Hoffnung, den jugoslawischen Bürgerkrieg nicht zum europäischen werden zu lassen. Wie lange werden wir diese Ohnmacht ertragen gegen den Druck der martialischen Appelle, im Namen des Friedens nun endlich Krieg zu führen?
Aus der Geschichte lernen heißt, nicht Geschichte machen zu wollen! Kann man das, wenn man alles daran zu setzen verspricht, daß sich die Geschichte nicht wiederholt, die Geschichte der ethnischen Ausrottungen, der Völkermorde, des Rassenwahns, der Kulturkriege? Solange man es verspricht, ohne es auch zu können. Wenn man aber das Versprechen zu erfüllen bereit ist mit aller Macht, also mit aller Gewalt, dann eben hat man aus der Geschichte nichts gelernt. Also hoffnungslos? Dann dürfen wir eben aus der Geschichte nichts lernen wollen, sondern nur aus den Erfahrungen, die wir mit anderen teilen, die Erfahrungen der Ohnmacht.