Zeitung Die Tagespost

Erschienen
30.03.2023

Erscheinungsort
Würzburg, Deutschland

Seite 17 im Original

Christen sind keine Apokalyptiker

Interview: Ute Cohen

Herr Professor Brock, in dem 1973 erschienenen Horrorfilm „Amputiert – Der Henker der Apokalypse“ ist eine Gruppe von Höhlenforschern in einem Bergstollen gefangen. Um das Überleben zu sichern, verspeisen sie den verlosten Arm eines Schicksalsgenossen, der bittere Rache übt. Was halten Sie von dieser „Einer für alle“-Devise?

Der Kern der Geschichte ist das Menschenopfer, das seit der Erzählung von der beabsichtigten Opferung Isaaks durch Abraham tabuisiert ist. Abraham wollte seinen Sohn opfern als Beweis seines Gottesgehorsams. Aus Gehorsam gegenüber Gott ist es aber nicht erlaubt – wie Gott selbst intervenierend darstellt – Menschen zu opfern. Es ist aber verständlich, dass man glaubt, es hätte tatsächlich einen Zweck, das Überleben der Gruppe zu sichern, indem einem Menschen ein Glied abgenommen wird. Das ist in gewisser Weise vernünftig, weil es anonym geschieht, weil alle die gleichen Chancen haben und weil es nicht personal zugerechnet wird. Selbst rechtlich akzeptabel ist es. Die Rache aber ist völlig aberwitzig, banal aufgesetzt, denn in der Situation gab es keine Alternativen.

Körperverstümmelung für einen übergeordneten Zweck gab es bereits bei den Amazonen. Diese sollen ihren Töchtern die rechte Brust amputiert haben, damit sie den Bogen besser halten könnten. Ein angemessenes Opfer für den Feminismus?

Nein, ganz sicher nicht, zumal man den Bogen auch ohne Amputation genauso gut spannen kann. Das ist ein vorgeschobenes Argument, ein sexistischer Zugewinn der Erzählung. Alle Formen der Selbstverstümmelung, auch im Hinblick auf einen höheren legitimierenden Befehl, sind weder erlaubt noch zu rechtfertigen.

Weshalb üben Horrorfilme über Körperverstümmelung und Kannibalismus diese Faszination auf viele Menschen aus?

Wenn im Fernsehen pro Tag mehrere Krimis angeboten und konsumiert werden, dann ist das einerseits ein Trainingsprogramm für Zuschauer in Failed States und verwahrlosten Communities, eine Vorbereitung auf die jederzeit annehmbare reale Situation. Andererseits gibt es auch eine Konfrontation mit den eigenen Macht- und Tötungsfantasien: Ich schaue mir den Film an und erkenne, welche Handlungsmotive ich kontrollieren muss. Das eine ist die Vorbereitung auf die Selbstunterwerfung, das andere ist die Verhinderung der Täuschung über sich selbst. Elias Canetti beschrieb zudem das Grundphänomen, dass die Leute so gerne vom Elend, von Krankheit und Ruin der anderen hören. Die Überlebenden triumphieren: Ich bin‘s nicht!

Auch in Personaltests wird mit Selektionskriterien für das Gemeinwohl gespielt: Wer darf mit auf das Rettungsboot, wenn nicht Platz für alle ist? Die Schwangere, der Greis, der Präsident? Halten Sie diese Testverfahren für aussagekräftig über die Eignung von Führungspersonen?

Das widerspricht den Einsichten der Psychologie. Die Annahmen über einen Ernstfall in abstrakter Anordnung widersprechen dem, was der Ernstfall ist. Der Ernstfall wird durch Panik, egomanes, rücksichtsloses Verhalten bestimmt, sodass die Planung des Ernstfalls eine Perversion der Vernunft ist. Wenn ich einen Unfall an Bord plane, dann plane ich ja so viele Rettungsboote ein, dass alle unterkommen. Das ist ein typischer Fall für Goyas Feststellung: Wenn die Vernunft träumt, gebiert sie Ungeheuer. Diese Testverfahren sind nichts weiter als die Frage an potenzielle Mitarbeiter, inwieweit man sie zwingen kann, ihren eigenen Auffassungen zuwiderlaufenden Handlungen auf Befehl im Interesse der Firmen auszuführen. Wer wissen will, wen schmeißt du raus, will wissen, wie kann ich dich manipulieren und von dir alles verlangen, was unsinnig ist.

Einige Siebzigerjahre-Filme wirken heute prophetisch: Richard Fleischers „Soylent Green“, Peter Fleischmanns „Die Hamburger Krankheit“ ... Mit Nahrungsmittelknappheit und Pandemien ist die Welt heute tatsächlich konfrontiert. Waren die Filme hellsichtig oder schlichtweg Science-Fiction?

Seit es literarische Zeugnisse über das Zusammenleben von Menschen gibt, werden diese Fragen gestellt. Das ist eine anthropologische Grundkonstante, weil die Grunderfahrung heißt, wir leben nicht in der Fülle, sondern im Mangel. Der ganze Organismus ist darauf programmiert, mit Mängelsituationen auszukommen. Diese Filme sind nicht prophetisch. Es entspricht einer anthropologischen Grundkonstante, dass man sich überlegt, wie wirken sich mögliche Beschränkungen der eigenen Handlungsvollmacht aus.

Was Körperverstümmelung betrifft, scheint die Wirklichkeit die Fiktion gar zu übertreffen: Der französische Influencer Anthony Loffredo will sich in einen Alien verwandeln und hat sich Nase, Ohren und zwei Finger amputieren lassen. Von der individuellen Entscheidung, sich so zu verunstalten mal ganz abgesehen: Ist das nicht Körperverletzung?

Jede Verstümmelung des eigenen Körpers verstößt gegen die Natur. Das natürliche Lebensprinzip heißt Bewahren. Auf dieser Verantwortlichkeit für das eigene Leben beruht unser gesamtes System des Zusammenlebens. Selbstverstümmelungsformen, die von Individuen ausgeübt werden, sind psychische Defekte. Die Leute, die das an anderen vollziehen, wollen einfach Kasse machen. Deren Motiv, anderen Leuten Geld abzunehmen, überlagert alle anderen ethischen und sonstigen Motive.

Auch den Eid des Hippokrates?

Das sowieso. Ärzte, die solche Operationen durchführen, sind anmaßende Willkürtäter. Auch ein Tätowierer verstößt gegen jede Art von Verantwortung für sein eigenes Tun – sofern nicht gerechtfertigt durch eine Kulturtradition in Asien oder der Südsee zum Beispiel. Das wird schöngeredet, indem man sagt, die Opfer machten es doch aus freien Stücken. Das hat‘s in der Moral von Kriminalverbrechern immer gegeben. Nein, was soll das! Das sind radikale Verstöße gegen Grundprinzipien der Verantwortlichkeit für das eigene Leben geschweige denn das aller anderen. Eine Gesellschaft, die das erlaubt, hält ganz offensichtlich nicht viel von diesen Grundprinzipien. Niemand darf etwas tun, was voraussehbar einen anderen schädigt.

Sind diese Verstümmelungen auch ein Überdruss am Menschlichen?

Nein, von Natur aus geht das gar nicht. Außerdem wäre das so, als wenn Kinder sich in Feen oder Prinzessinnenverwandeln wollen als Konsequenz ihrer Hingabe an die Märchenerzählung. Das ist nichts anderes als die Konsequenz einer schweren psychischen Schädigung!

Die Bibel äußert sich klar über diese körperlichen Interventionen: „Ihr sollt um eines Toten willen an eurem Leibe keine Einschnitte machen noch euch Zeichen einätzen; ich bin der HERR.“ (3. Moses 19, 28) Würden Sie das unterschreiben?

Ja, natürlich. Das sind die Grundlagen jeder Art von Ethik. Das gilt für alle Kulturen, außer in Lebensgemeinschaften, die diese Markierung auch als Schutzfunktion im Falle verfeindeter Stämme sehen. Da kann man es als historische Gegebenheit beschreiben, aber dennoch in keiner Hinsicht rechtfertigen.

Tätowierungen sind auch Zeichen eines Sprachaberglaubens und der Lust, den Wunsch permanent vor Augen zu haben. Wie sehen Sie die Beschreibung des Körpers?

Nein, dafür verwendet man Kleidung oder Schmuck. Tätowierungen lassen sich dagegen nur sehr schwer rückgängig machen. Mit dem Grundsatz des Menschenethos sind sie nicht vereinbar: Handle nie so, dass die Konsequenzen deiner Handlungen nicht widerrufen oder wiedergutgemacht werden können. Nur ein völlig solipsistischer Mensch könnte Autonomie über den eigenen Körper behaupten – den gibt es aber nicht.

Spielen auch der wiederkehrende Tribalismus und die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit eine Rolle?

Das Motiv der Sehnsucht ist ein Zeichen dafür, dass Leute heute keinerlei seelische Qualitäten in sich aktivieren können. Sie haben innerlich keine Möglichkeit, alternative Bilder zu entwickeln. Es gibt kein Sehnen. Es ist ein mörderischer Impuls der Rechtfertigung von kriminellen Dominanzakten, jedenfalls vom Bestreben, andere zu unterwerfen. Das sind Legitimationsstrategien für Herrschaftsgelüste. Nein, alle Leute, die sich verstümmeln, sind geistig schwer beschädigt und vor allem geistig minderbemittelt.

Bei Satanisten haben Piercings eine bestimmte dämonische Bedeutung. Weshalb gibt es diesen Zusammenhang zwischen Körperzerstörung und der von den Satanisten ersehnten Ankunft des Antichristen?

Sie wollen das Prinzip der Zerstörung – wie im Kapitalismus üblich – als schöpferisch betrachten. Anstatt das Tyrannische der Zerstörung anzuerkennen, tut man so, als könne man selber einen Beitrag leisten, um das Weltende herbeizuführen. Das ist eine schiere kindlich dumme Allmachtsanmaßung, die geistlos behauptet, dass die eigene Macht einen legitimiert. Das Dämonische ist nur eine Deckoperation, eine Kaschierung, eine Überblendung des eigentlichen Motivs: sich als Herrenmensch aufzuspielen und sich am Leiden anderer zu ergötzen. Man tut so, als ob man einem höheren Zwecke dienen möchte.

Die angedeuteten Apokalypsen lassen wenig Raum für Hoffnung. Im Griechischen bedeutet Apokalypse aber auch „Enthüllung“. Was könnte uns enthüllt werden in apokalyptischen Zeiten?

Apokalypse heißt Vorschein des Endes. Das ist eine menschheitliche Erfahrung. Respice finem heißt das in der Moralgeschichte. Wenn du etwas tust, denke an das Ende. Beispiel Umweltkatastrophe: Der Sinn dieser für den Menschen apokalyptischen Vorstellung besteht darin, das jetzige Handeln nicht darauf zulaufen zu lassen, sondern dagegen anzutreten. Der Weltuntergang ist nicht die Voraussetzung für das ewige Leben. Das wäre eine heidnische Vorstellung für Tyrannen, die sagen, ihr müsst meinen Mordgelüsten euch beugen, denn das ist der Weg ins Himmelreich. Christen sind keine Apokalyptiker. Apokalypse begründet die Hoffnung. Ein solches Denken an das Ende brauchen wir, um unser Handeln zu qualifizieren. Das ist das Positive an der Apokalypse.

Erlösung ist ein menschliches Bedürfnis in schwierigen Zeiten. Sie selbst inszenieren sich als Messias der Erlösung vom Konsumzwang. Was inspiriert Sie am christlichen Erlösergedanken?

Der christliche Erlösergedanke besagt nicht, dass mit der Kreuzigung Jesu Christi jedes Leid in der Welt aufgehoben wird, sondern dass man einen Weg aufgezeigt bekommt. Jede Art von sozialem Handeln ist nicht aus egoistischer Perspektive zu sehen, sondern aus der Perspektive aller Betroffenen. Wenn ich mein Handeln so ausrichten muss, dass weder ich noch andere zu Schaden kommen, dann folgt das dem Prinzip des Opfers. Ich muss mich einschränken. Asket zu sein, bedeutet Einübung in die Selbstbeherrschung. Das beschneidet meine Freiheit und meine Machtgelüste – genau das ist das Motiv der Zeugenschaft Jesu.

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