Magazin Focus

Erschienen
12.04.2024

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
16/2024

Seite 86-87 im Original

„Besessen von der Weltrettung“

Interview: Ute Cohen

Lieber Bazon Brock, „Eine schwere Entdeutschung“ heißt Ihr neues Buch. Köche denken bei dieser Vorsilbe an Entbeinen und Entgräten, Gärtner an Entgrünen oder Entpilzen. Was passiert denn beim Entdeutschen?

Beim Entdeutschen wird enttäuscht. Das Teutschtum war eine große Enttäuschung. Westliche Aufklärungstätigkeit besteht darin, Menschen von ihrer Täuschbarkeit und Täuschung zu befreien. Lernen besteht in Enttäuschung. Wer das nicht aushält, wird aus Enttäuschung wütend und zertrümmert. Davon gilt es das Deutsche zu befreien.

Es gibt auch Stümperer unter den „Entdeutschern“. Friedrich Nietzsches Diktum „Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen“ wird von einigen als deutscher Selbsthass und Selbstzerstörung verstanden. Worin gründet dieses Missverständnis?

In kindischer Wortwörtlichkeit. Seit der lutherischen Reformation ist es das gefährliche Moment der Deutschideologen, dass sie die Programme wörtlich nehmen. Zudem hat Heinrich Schliemann bewiesen, dass das Verfahren der Wortwörtlichkeit zu ungeheuren Erfolgen führt. Der Schliemann als Laienwissenschaftler hat als treudeutscher Märchenleser Homers Ilias beim Wort genommen. Fatal ist, dass er Troja so tatsächlich fand und das Gold in Mykene ausgrub. Das nahmen die Deutschen ab 1870 als endgültigen Beweis, dass Deutschsein heißt, mit einer Idee hundertprozentig ernst zu machen. Einen Text wortwörtlich zu nehmen und wie ein Kleinkind in die Tat umzusetzen, ist der Kern des deutschen Elends. Dadurch wurde das Land immer kaputter.

Ist das Entdeutschen eine Kulturtechnik, die in Vergessenheit geraten ist?

Ja, sie ist in Vergessenheit geraten, weil die Leute die dahinterstehende Geschichte nicht mehr kennen. Selbst von Parlamentariern und Unimitgliedern wissen nur sehr wenige etwas über die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Moslems und Christen. Es reicht aber nicht, Ideen zu haben, sondern man muss wissen, was man mit Ideen anfängt als Individuum wie als Nation. Wenn man sagt: Wenn die Idee nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, um so schlimmer für die Wirklichkeit, dann kommt man automatisch in die Hölle. Wir sind schon in der Hölle – in der Bewusstlosigkeit, in der Geschichtslosigkeit, in der Hölle der Selbstvergessenheit.

Wer entdeutschen will, sollte natürlich wissen, was deutsch sein bedeutet. Heute gibt es kaum sachliche Antworten. Deutsch sein wird von rechts verherrlicht, von links eliminiert. Wie könnte man die Frage nüchtern beantworten?

Es heißt, einen vernünftigen Gebrauch von der Kraft der Fantasie, der Kraft der Gedanken zu machen. Deutschsein bedeutet heute aber blinder Glaube an eine Idee. Deutschsein bedeutet eine Besessenheit von Weltrettung. Eine richtig verstandene Entdeutschung heißt, zu sagen: Eure Ideen, so großartig sie auch sein mögen, können nicht wirksam werden, wenn ihr versucht, sie 1:1 in die Wirklichkeit umzusetzen. Heute werden Gesetze verabschiedet und man glaubt den Tatbestand damit bewältigt, zum Beispiel Kindergrundsicherung. Man glaubt, das Gesetz sei die Wirklichkeit. Es geht aber um Erziehung, Bildung und das ist es, worin die Deutschen derzeit vollständig versagen. Wer nur wie ein Kind Omnipotenzfantasien auslebt, wird niemals in der Lage sein, die Leistung des anderen anzuerkennen.

Wie aber kann das Deutsche bestimmt werden? Territorial wurde es im Gegensatz zu anderen Ländern meist nicht bestimmt. Sprachlich? Wer deutsch spricht, ist Deutscher?

Mit Habermas gesprochen: Es geht um den Verfassungspatriotismus. Wer die im Grundgesetz genial zusammengefassten Regelungen anerkennt, ist Deutscher. Dabei geht es auch um Kritikfähigkeit und Debatten, um den Geist, nicht den Buchstaben des Gesetzes. Das ist die schwere Entdeutschung: Endlich die Menschen vom Buchstaben, vom Plan eines Weltrettungsgesetzes für Kinder oder Kranke wegzubringen. Vergleichbar ist das mit der Welt der Kunst. Ein Seiltänzer hält sich in einer lebensgefährlichen Situation an etwas fest, was er selber trägt, der Balancierstange. Das gilt auch für das Grundgesetz: Haltet euch daran, was ihr selber verbindlich zu tragen versteht, nicht an Götter, Kaiser, Ideologien.

Am Grundgesetz wird aber gerührt: So gab es Debatten um den Begriff „Rasse“ in Art. 3 GG oder auch das Begriffspaar Mann/Frau ...

Das ist aber keine grundsätzliche Aufhebung des Grundgesetzes. Es sind fatale ideologische Verblendungen, wenn ich glaube, dass durch die Löschung des Begriffs auch das Phänomen verschwindet.

An einem Thementotem aus dem Jahre 2006 befestigten sie typisch deutsche Gegenstände wie das Tempo-Taschentuch, Meister Proper ... Diese muten inzwischen an wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Was würden Sie heute an diesen Pfählen befestigen?

Immer noch wäre zu erklären, was Tempo bedeutet, wenn der Gebrauchsgegenstand eines Papiertaschentuchs universalisiert wird. Sind abstrakte Begriffe wie Freiheit und Liebe real oder sind sie bloße Wortfürze? Die Frage ist, ob die Röte auf gleiche Weise real ist wie die roten Dinge. Das ist der Universalienstreit. Das wissen die Leute aber nicht mehr. Sie reden von Gesellschaft, aber hat denn jemand diese Gesellschaft jemals gesehen? Es ist eine abstrakte Gesellschaft, eine Arbeitshypothese zur Ordnung der Gedanken. Viele können aber weder denken noch ihre Gedanken ordnen. Das geht nicht vom Volke aus. Die Spitzen der Gesellschaft sind total verblödet.

Eine typisch deutsche Figur ist der Narr, als dessen Nachfahren Sie den heutigen Grünen sehen, „eine vielgeschmähte und dennoch nachgeahmte Gestalt in Europa“. Die Deutschen, Europa, ein Volk der Narren?

Ja, so werden wir ja von allen Seiten gesehen, zumal wir glauben, die Lehrer aller anderen zu sein. Das ist die deutsche Krankheit, das Elend, in dem wir leben. Je grüner, linker, freiheitlicher, desto pathetischer gesonnen, desto irrealer! Wenn einer sich besinnt, dann wird er eskamotiert.

Die deutschen Dichter Goethe und Schiller standen dem politischen Nationalstaat skeptisch gegenüber, zu eng zu wenig menschheitlich sei er. Wie lässt sich das Deutsche mit dem Universalismus vereinbaren?

Indem man dem folgt, was früher einmal gelehrt und auch von intelligenten Politikern – das gab es einmal! – vertreten wurde: Jeder kann auf seiner individuellen Position nur bestehen, wenn er darin den Anteil des Universellen ausbilden kann. Nur wer für das Ganze steht, hat im Einzelnen auch etwas zu sagen, das hatte Kant schon formuliert. Nur wer sich darum kümmert, dass sein Handeln auf der Weltebene Auswirkungen hat, ist gerechtfertigt. Die Begriffe „Weltkultur“, „Universalität“ stammen ja alle aus dem deutschen Erörterungsraum. Goethe erfand den Begriff „Weltkultur“. Solange wir unser Handeln auf das Universelle ausrichten, solange sind wir gerechtfertigt. Das gilt auch für Umweltfragen. Das waren schon die Themen der Romantiker, die heute aber nur als Blaue-Blumen-Ideologen verhöhnt werden. Nein, das Ganze ist die Blaue Blume!

Glauben Sie, Aufklärung vermag gegen ideologische Verbohrtheit etwas auszurichten?

Die Geschichte lehrt, dass solche Leute nur belehrbar sind durch die Katastrophen, durch die sie ihr Denken führt. Leider ist bei diesem Agieren nicht nur die Genossenschaft der ideologisch Verblödeten betroffen, sondern die ganze Menschheit. Lernen wir aus der Katastrophe? Bisher ist die Hoffnung, dass wir aus dem Scheitern lernen können. „Try again and fail better“, heißt es, nicht aber meint das, wie bei Hitler oder Wagner im Götterdämmerungs-Pathos, alles kaputt zu hauen. Ich habe etwas bewirkt, indem ich alles zerstört habe – das ist deutsche Ideologie. Wer Krieg führt, ist Deutscher. Dieser Beweis aber soll nicht mehr zugelassen werden. Angriffskrieger sind das Böse schlechthin.

Ist die Entdeutschung apokalyptisch? Apokalypse bedeutet nicht nur Untergang, sondern auch Enthüllung. Wenn ja: Was wird enthüllt? Was geht unter?

Es wird enthüllt, worauf alles hinauslaufen muss. Wenn ein Tischler beginnt, Holz zu bearbeiten, muss er wissen, wie der Tisch aussehen soll, den er fabrizieren will. Das heißt auf Griechisch „Vorschein des Endes“. Bei den Christen ist es die Erlösung, das Reich Gottes, bei anderen Frieden oder die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit. Enthüllt wird, was richtigerweise vertreten werden kann, das, was man nicht nur aus ideologischer Verblendung wünscht. Gemeint aber ist eine sinnvolle Orientierung auf das Ziel, um mein Handeln zu begründen. Untergehen soll die Erfahrung, dass man nur aus den Trümmern lernt. Es soll nicht mehr notwendig sein, den Beweisgang der Zerstörungskraft anzutreten, um zu erkennen, dass Gedanken mächtige Konsequenzen haben können.

Apropos Untergang: Einige machen tabula rasa mit der deutschen Geschichte, canceln und löschen. Worin unterscheidet sich Ihr Widerruf des 20. Jahrhunderts?

Es handelt sich um das Gegenteil und dient der Wiedergewinnung der Basis aller Erkenntnis. Unsere Gegenwart ist eine Vergangenheit von morgen. Über Vergangenheit lernen wir nur etwas in der Geschichte. Es erfordert, geschichtlich begabt zu sein, um am Beispiel von zwanzig, dreißig Generationen zeigen zu können, was jeweils aus bestimmten Annahmen über die Zukunft als zukünftiger Vergangenheit werden wird. Die Formel für das Zwanzigste Jahrhundert lautet: Wir wollen den Sozialismus aufbauen, wir haben eine Theorie, eine Ideologie, die setzen wir mit aller Kraft durch! Das wird widerrufen. Ob das links- oder rechtsfaschistisch war, fundamental religiös oder kapitalistisch radikal, ist egal. Es geht darum, dass das 20. Jahrhundert als Erzwingungsstrategie des Absoluten ein für alle Mal verboten wird und sich verbietet. Unser Durchsetzungskräfte sind nicht mehr Feuer, Waffen und Unterwerfungsverhältnisse, sondern Einsichten in das, was gilt auf der Welt: die Naturgesetze. Das aber erfordert Bildung.

Kein Wort ohne sein Gegenteil: Zur Entdeutschung gehört die – eine Wortneuschöpfung – „Deutschung“. Woran könnte man dabei anknüpfen?

Das hieße, sich in seinem Handeln auf das Ganze, das Schicksal der Menschheit, auf die Naturgesetze zu beziehen. Deutschen heißt: Denke an das Ende! Respice finem!

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