Online Memorial für Harald Falckenberg

© QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus
© QART, Stefanie Hierholzer und Ulrich Klaus

Erschienen
05.12.2023

Von der Rechtsprechung zur Kunstsprechung

In allen Nachrufen wird betont, dass Harald wie kein zweiter Kunstenthusiast selber als Partner der Künstler aktiv wurde. Ja, er habe interveniert, als sei er zum Leben als Künstler entschlossen gewesen – und zwar als Freigeist mit hohem intellektuellen Anspruch. Als solcher sei er poeta doctus auf dem Niveau von Marcel Duchamp, Martin Kippenberger oder Jean-Jacques Lebel gewesen.

Diese Sicht ist durchaus überzeugend, aber um die Einmaligkeit des Wirkens von Falckenberg zu verstehen, bedarf es einer weiteren Orientierung auf seine Motive und Aktionsformen. Er war Jurist in einem „erweiterten“ Verständnis von Rechtsprechung. Das aber heißt, dass er früh verstanden hatte, dass nicht das Gesetz das Recht schafft, sondern die sozialen Aktionen, mit denen sich die Beteiligten durch Verweis auf das Gesetz motivieren. Konkret: Der Lügner bestätigt die Wahrheit, der Abweichler würdigt die Norm, der Kriminelle weist das Gesetz als Bestimmungsgröße seines Handelns aus. In diesem Zusammenhang entwickeln die eingespielten Verfahren eigenständige Bedeutung jenseits der bloßen Existenz des Gesetzes. So entsteht eine Normativität des Faktischen, eine stille Gewalt der Verfahrensweisen.

Vor allem durch den ihm von Werner Büttner eröffneten Zugang zu den bildenden Künsten vermutete Harald sehr bald, dass sich ihm auch die Normativität des Kontrafaktischen erschließen würde, das heißt die Leben und Handeln bestimmenden Kräfte des Phantasierens, des spielerischen Selbstwiderrufs, der religiösen Überzeugungen, der märchenhaften Erwartungen und vor allem die Kraft der schöpferischen Zerstörung.

Parallel zur Positionierung des Gesetzes in der Rechtsprechung steht der Begriff der Kunst in der Kunstsprechung. Analog zu seiner Erfahrung in der Rechtsprechung verstand Harald deshalb die Kunstsprechung als System von sozialen Aktionen, die aber mit den herkömmlichen Begriffen Schaffen und Schöpfen, Zeigen und Ausstellen, Kaufen und Verkaufen, Kritisieren und Behuldigen in feuilletonistischem Flor nicht angemessen erfasst werden. Das schien ihm zu harmlos, zu beliebig und beiläufig angesichts der hohen Erwartungen der Öffentlichkeit an das Handeln von Individuen in Künsten und Wissenschaften, Sinn zu stiften, und sei es sogar den Sinn des Unsinns.

Gewöhnt ist man an die Autorität der Kulturkollektive, vor allem der Gremien, die über Fördermittel, Preisvergaben, Berufungen und Geltungsgewinn entscheiden. Aber diese Entscheiderkollektive schaffen ja keine Kunst, obwohl sie durch umfassendere Kenntnis („Schwarmintelligenz“) jedem Individuum weit überlegen zu sein scheinen. Die herausfordernde Frage für alle Beteiligten in den einzelnen Bereichen des Kunstsystems lautet deshalb: Wie wird durch die kollektive Repräsentanz von „Kunst“ ermöglicht, dass der Arbeit von Künstlerindividuen gerade durch Abweichung von den Kulturnormen Geltung beigemessen werden kann. Und da antwortete Harald als Agent der Rechtsprechung: Wie der Gesetzesbrecher das Gesetz zur Geltung bringt, so bringt der künstlerische Einzeltäter den Anspruch auf Kunst zur Geltung.

Ihm war völlig klar, dass die Kunst nicht an der Wand hängt; an der Wand hängt bearbeitetes Material. Es ist befremdlich-attraktiver Wahrnehmungsanlass für die Betrachter, deren Aufgabe und Gewinn darin besteht, „Kunst“ als eine Denknotwendigkeit zu erkennen, aus der die bits and pieces, die vereinzelten Arbeitsspuren und Werkkonzepte zu einem Sinnzusammenhang gefügt werden.

Gegen den Anschein, den seine bekannteste Publikation Im Maschinenraum der Kunst vermittelt, wird der Sinnzusammenhang nicht nach dem Beispiel der Funktionsweisen von Maschinen hergestellt, sondern nach den Logiken unserer Intuitionen und Gefühle, der Lustantriebe und der Liebe als Ergebenheitsbereitschaft. Harald Falckenberg repräsentierte diese Logiken in seiner Erscheinung: er leuchtete und erleuchtete.