Zeitung Westdeutsche Zeitung

Erschienen
22.09.2023

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Seite 13 im Original

Erben ist keine Privatsache

Bazon Brock rezensiert das neue Buch von Gisela Stelly-Augstein, „Der Fang des Tages“, in dem es um die Ungerechtigkeit des Erbens geht

„Erben ist keine Privatsache“, zeigt literarisch extrem gekonnt Gisela Stelly-Augstein. Romane zu lesen, bleibt bei der Autorin offensichtlich auch keine Privatsache, denn wer diesen „Roman“ liest, nimmt unmittelbar teil an der Besichtigung eines dunklen Flecks unserer Gesellschaft, nämlich der permanenten Aushöhlung des Grundsatzes von Demokratien, zum Beispiel des Grundsatzes der Gleichheit aller ihrer Mitglieder. Was heißt heute noch Chancengleichheit, wenn nur wenige durch Erbschaft zu Häusern und Vermögen kommen, die für diejenigen, die nicht erben, selbst bei Oberbeamteneinkommen niemals erreichbar sein werden?

Klar, klar, alle haben bei uns immer noch die völlig gleiche Chance auf einen Lottogewinn und vor allem werden im Supermarkt die gleichen Produkte vor allen in gleicher Herrlichkeit ausgebreitet, um Wahlfreiheit zu demonstrieren. Aber das Leben ist kein Lottospiel und kein Einkaufsbummel. Und deshalb ist das heutige Erbrecht, sagen wir mal, unzeitgemäß – in Wahrheit ist es Sprengstoff in Gesetzesform, eine Bedrohung für den Frieden auf den Straßen, vom Frieden der Seelen ganz abgesehen.

Von seelenzerstörerischen Konsequenzen des fatalen Erbens handelt der Roman „Der Fang des Tages“. Das meint nicht den Fang etwa von Fischern nach redlicher Arbeit; schon eher das Schnäppchenmachen der Zweitverwerter. Einen guten Fang machen die erfolgreichen Betrüger, die Schieber und Politakteure, die Insiderwissen zur privaten Bereicherung nutzen. Den größten Fang von allen aber machen eben die Erben, die nichts als natürliche Abstammung legitimiert, alle anstudierten Bekenntnisse zur Zivilisierung fallen zu lassen. Politaktivisten aller Klassen behaupten ja emphatisch, dass Abstammung etwa bei Nationalitätenausweis rein gar nicht zu gelten habe, aber beim Erben vergessen diese Kämpfer ihre frommen Vorsätze und greifen bedenkenlos zu. Sie machen tolle Fänge, denn allein im vorigen Jahr wurden in Deutschland 64 Milliarden Euro offiziell vererbt, von den ererbten Geheimnissen über Schweizer oder Hongkonger Nummerkonten ganz zu schweigen. Es ist bloße Politpropaganda, dass die Alten auf Kosten der Jungen lebten. Was die Jungen ohne jegliches Verdienst als Erben kassieren, übertrifft alle Fürsorgekosten für die Alten. Am richtigsten wäre es sicher, alles Vererbte für die Heilung des bedeutendsten Welterbes, die CO2-Verseuchung, zu verwenden. Das würde dem sozialen Frieden am ehesten dienen.

„Darüber darf man nicht reden, aber aufschreiben darf man“, lautet ein freundschaftlicher Rat an die irritierte Erbin, Hauptperson im Romangefüge. Dessen ersten Teil widmet Stelly-Augstein den Gepflogenheiten des ganz normalen Erbfalles, also der natürlichen Rivalität unter Geschwistern und deren jeweils angeheirateten Egomanieverstärkern. Ganz natürlich sind für uns alle radikalisiertes Geltungsgehabe und Habgier, sogar mit Raubtierinstinkt. Der familiäre Erbkrieg kommt auch nicht durch Einsicht ans Ende, sondern bestenfalls durch Blitzeis am Heiligen Abend, der die schwer Ramponierten erst zum faulen Kompromiss befähigt. Statt Erfahrung zum Besseren machen zu wollen, gilt der Blick in die Zukunft der Planung einer „veganen Imbisskette“ – aber vielleicht ist ja Selbstentlastung heute nur noch über Veganismus und jeglichen Verzicht, über das Vergangene zu reden, zu erreichen.

Im zweiten Hauptteil steigert die Autorin den Lustgewinn des Lesers, indem sie die Leseanleitung, also die Dramaturgie des Plots, nach dem Bilderbau des genialen Zeichners Escher anlegt: Jedes Aufsteigen ist zugleich ein Absteigen, selbst die tollste Bewegung führt nicht von der Stelle. Und optische Täuschung genießt man ja nur, wenn man sie durchschaut. In dieser Hinsicht überbietet Stelly-Augsteins Roman alle mir bekannte Konkurrenz. Sinnreicher kann man die Frage nicht durchspielen, ob es besser sei, einen Roman zu schreiben, anstatt ihn zu leben und zu erleiden. Muss man ihn erst erleben, um ihn schreiben zu können? Fantastisch ist es geradezu, als Leser der Autorin nachzuforschen, ob „Der Fang des Tages“ die Beschreibung eines gelebten Romans ist. Jedenfalls variiert sie grandios Wittgensteins philosophische Grundmaxime, dass man darüber schweigen müsse, wovon man nicht reden könne. Stelly-Augsteins Variante heißt: Wovon man nicht reden darf, das muss man aufschreiben.

Woher weiß man, worüber man nicht reden darf? Es steht ja schließlich nirgends geschrieben, wie man zu reagieren hat, wenn Notare – verstrickt in erpresserische Liebesaffairen – Testamente fälschen, wenn die Arbeit von Rechtsanwälten vor allem der Legalisierung von Unrecht gilt – z.B. wenn Scheinehen rechtskräftig gemacht werden –, oder wenn ärztliche und private Pflegedienste den von ihnen gehüteten Zugang zum baldigen Erblasser ganz opportunistisch kontrollieren. Aber am grausamsten bleibt das Triumphgebaren der Überlebenden. Das ist die niederträchtigste Kondition des Generationenkonflikts. Die Niedertracht steigern die Beteiligten noch durch die völlige Selbstverständlichkeit, mit der sie durch Erbschaftssteuervermeidung ihren Fang vergrößern wollen und sich nicht schämen, damit auch noch vor sich selbst zu prahlen. Geht das hoffnungslos immer so weiter als eine biblische Erbsünde? Stelly-Augstein bietet mit ihrem Roman das große Spektrum der Argumente, mit denen man über das fatale, weil gesellschaftszerstörende Erben und Vererben, aufklären könnte. Das unterstützt über weite Strecken sehr gut, was einsichtige Erben in ihrer Forderung, endlich angemessen besteuert zu werden, vom Gesetzgeber einfordern. „Tax me now!“, ist die schöne zeitgemäße Variante der Goetheschen Maxime: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen.“