Online Germany: Zero Points

Bakhmut
Bakhmut

Erschienen
18.07.2023

Noch ist Deutschland nicht verloren

Universitätsgebäude sind Bauschrott, Schulhäuser versifft, Autobahnbrücken kaputt, die öffentliche Verwaltung hinterm Mond, die Bundesbahn ruiniert, die Bankenregulierung eine Bürgerverhöhnung, die Bundeswehr außer Gebrauch, Krankenhäuser bankrott: ein fabelhaftes Resultat von 25 Jahren deutscher Politik, die die Bundesrepublik nur allzugern als Idealstaat unter den weltweit sichtbaren Staatsbankrotten/failed states sieht.

Nichts ist den Deutschen so selbstverständlich wie die Annahme, Deutschland gehöre in die Spitzengruppe der Weltgesellschaften. Man sieht sich immer noch als technologisch sonderbegabt und infolgedessen als Meister des Exports. Aber schon seit 15 Jahren geht es mit Deutschland in den internationalen Rankings rapide bergab. In gegenwärtigen Untersuchungen zur Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften rangiert das Land nicht einmal mehr unter den ersten 20. Deutsche Könnerschaft erweist sich vor allem darin, auf derartige Zumutungen der Verschiebung in der Weltpolitik nicht zu reagieren, geschweige denn die Selbstbespiegelung des deutschen Gemüts in verbindliche Anerkennung der eigenen Beschränktheiten zu überführen.

Das muttihafte Walten der Kanzlerin Merkel erzeugte die Zuversicht, dass sich die Veränderungen in der Weltpolitik nicht auf die Position Deutschlands auswirken könnten. Selbst Störungen der Zukunftsgewissheit wie durch die Flüchtlingsmassen vom Herbst 2015 wurden schnell beruhigt durch die regierungsamtliche Versicherung, ein derartiges Chaos werde sich nie wieder ereignen. Im Übrigen beweise der Wunsch von Millionen, nach Deutschland zu kommen, die Beliebtheit des Landes in der Welt, sodass sich schon durch diesen Beweisgang jegliche Irritation des Selbstwertgefühls der Deutschen unterdrücken ließ.

Auch als die Unterhaltungsindustrie mit dem jährlich stattfindenden European Song Contest immer häufiger die Jurorenansage unüberhörbar machte: „Germany: Zero Points“, und selbst im Sport der Verdacht auf Bestechung und Bestechlichkeit nicht mehr zu behübschen war, glaubte man trotzdem noch, diesen Einbruch des Ernstfalls in das Spiel als irrelevant abtun zu dürfen. Man redete sich mit der bewährten Selbsttäuschungsformel „Wir schaffen das“ ein, die Wiederaufnahme unter die ernstzunehmenden Bewerber des Song Contests sei jederzeit möglich und der Leistungsabfall der deutschen Profi-Kicker böte gerade die Voraussetzung für zukünftige Aufstiege.
Gerade diese gemütszerreißende Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlichem Versagen bedroht Gesellschaft und Staat.

Na, und?

Man darf doch wohl annehmen, dass Individuen wie Kollektive sich umso mehr in ihrer Selbsteinschätzung überhöhen, je konkreter sie ihre eigene Ohnmacht erfahren. Die Deutschen machten immer schon außerordentlichen Gebrauch von dieser Entlastungsstrategie. Als durch die Konsequenzen des Dreißigjährigen Krieges für die deutschen Kleinstaaten und ihre Bewohner jede Hoffnung zerstob, es etwa mit Franzosen, Engländern, Spaniern oder Portugiesen, ja selbst mit Niederländern oder Belgiern im Erwerb irdischer Macht aufnehmen zu können, kaprizierten sie sich darauf, eine Großmacht im Reich des Geistes zu werden. Als Helden in der Sphäre des Dichtens und Denkens, vor allem aber in der der Musik, fühlten sie sich doch den Koofmichs der materiellen Güter haushoch überlegen. Der Spott, den die wahren Weltkönner auf das deutsche Wolkenkuckucksheim häuften, schien schnell widerlegt, als der Ideenreichtum der Deutschen durch das Ernst-, also das Wörtlichnehmen der großen Gedanken in der Technologieentwicklung weltwirksam wurde. Seit den 1870er Jahren erreichte die deutsche Industrie tatsächlich Weltgeltung, die sie aber schon 1914 dazu verführte, auch Weltmacht werden zu wollen. Die Wirtschaftsführer glaubten dafür Regieanweisungen bedeutender Musiker und Dichter im Format Bayreuths nutzen zu dürfen. Denn was nützen großartige Ideen der Weltverwandlung auf der Bühne, wenn die Kunden des Spektakels nicht auch mitspielen dürfen (fragte der von Heinrich Mann genauestens charakterisierte Untertan)?

Politik als große Opernregie wurde Markenzeichen deutscher Weltmission, in der sich jeder einen Platz an der Sonne sichern konnte, der bereit war, bedingungslos mitzuspielen. Der Gröwaz, der größte Wagnerkenner aller Zeiten, liefert bis heute die Rechtfertigung für Untergänge als imposante Götterdämmerungen – überzeugend verwirklicht von 1939 bis 1945 im Weltformat. Und ab 1951 erweisen so gut wie alle deutschen Machtprätendenten durch ihre Teilnahme an den Wagnerfestspielen wieder der Gültigkeit des Verfahrens ihre Reverenz. Je unbedarfter, desto überzeugender, wie schließlich Frau Merkel bewies. Der peinliche Höhepunkt war die Verleihung des höchsten bundesrepublikanischen Ordens an die Frau, die bedenkenlos stolz vor der Öffentlichkeit bekannte, „immer schon gewusst zu haben, dass Putin Europa zerschlagen will“ (ausdrücklich mithilfe einer Wagner-Truppe) – und die dennoch Deutschland von Putins Machtwillen abhängig machte. Merkels ruchloser Optimismus führte zum Bruch ihres Amtseids, dessen Folgen nun in der Enttäuschung des Vertrauens der Bevölkerung in die Führungsfiguren wahrgenommen werden. Darf man, muss man, um sich in dieser Situation zu orientieren, auf die Erfahrungen der Deutschen zurückgreifen, als sie nach den Weltkriegen von 1918 und 1945 den Verlust jeglicher Selbstgewissheiten zu verkraften hatten, 1935 durch die Nürnberger Rassengesetze den bürgerlichen Humanismus aufgaben oder 1948 die deutsche Einheit in der Gründung zweier deutscher Staaten verloren?

Mit den nachfolgenden Überlegungen wird jenseits der bekannten Entgegensetzung von deutscher Geschichte als Kontinuität oder als Bruch anders argumentiert: Die Geschichte Deutschlands wird offenbar zum Muster weltweiter Entwicklungen von Gesellschaften, die einerseits durch kapitalgetriebene Radikalität im Modernisierungszwang jegliche Bindung an ihre kulturellen Wurzeln verlieren, sich aber andererseits dem aufoktroyierten Konkurrenzkampf mit einer unverwechselbaren Identität als Markenzeichen verpflichten müssen.

Das moderne Deutschland erwies sich als Avantgarde für blutige Kulturkämpfe, Auslöschung deklarierter innerer Feinde, Diskriminierung liberaler Positionen, ausgezeichneter Bewährung von Wissenschaft in der Entwicklung von Waffen, literarische Würdigung der Machtregime, ideologische Stimulierung der Opferbereitschaft und Märtyrerverklärung. Die willentliche, intentionale Rebarbarisierung ist leider kein einzigartiger Unfall deutscher Geschichte. Wäre sie das, bräuchte man das Wissen um die Bedrohung nicht ständig wachzuhalten.

Offenbar zwingt die innere Dynamik von Machtregimes, totalitär zu werden, alle Gesellschaften wenigstens einmal, hoffentlich nur einmal das Schicksal Deutschlands selber durchzustehen. Das ist ja bereits unübersehbar.

Als gegenwärtig bedeutendster Wagnerkenner und Regisseur im internationalen Format gibt sich Putins Parteigänger Prigoschin im russisch-ukrainischen Krieg zu erkennen. Ganz dezidiert ist die ideologische Ausrichtung der beiden in der Namensgebung der Privatarmee von Prigoschin als Wagner-Truppe zu erkennen. Er inszeniert auf den ukrainischen Schlachtfeldern ein Wagnerfestival, das die Bedeutung von Bayreuth weit in den Schatten stellt. Ganz offensichtlich liegt ihm daran, den Bezug zu deutschen und amerikanischen Vorbildern als Motivationsverstärkung sichtbar werden zu lassen.

Francis Ford Coppola hatte in seinem Monumentalwerk „Apocalypse Now“ in einer Sequenz, die die Herzen der Wagnerianer höher schlagen ließ, als es je in Bayreuth möglich war, eine Hubschrauberstaffel Angriffe auf Vietnamesen fliegen lassen – unter exzessiver Stimulierung durch Einsatz der genialen Wagner-Musik aus der „Walküre“.

Hitler hatte schon mit dem „Unternehmen Walküre“ Wagner als größten Programmatiker für das Dritte Reich, ja schlechthin für Deutschland zu ehren gewusst. Wagners „Parzifal“ lieferte den nationalsozialistischen Rassegesetzen von 1935 das Konzept der Blutreinheit des Ariertums, an das heute noch z.B. von der AFD im Widerstand gegen die Durchmischung der Bevölkerung appelliert wird.

Auch zu Kaiser Wilhelms Zeiten lag schon der Gedanke nahe, Wagners Opern als reales Weltgeschehen mit dezenten Hinweisen auf die Ideologie des großen Musikmythologen zu etablieren – beispielsweise als Festungsanlage „Siegfriedlinie“ gegen die Kräfte des europäischen Westens im Ersten Weltkrieg.

Aber nicht nur ambitionierte Politgrößen in der Rolle von Heilsbringern würdigen mehr denn je die deutsche Ideologie Richard Wagners, sondern auch ehrgeizige Künstler setzen auf sein Konzept der Rettung durch Zerstörung. So hat der französische Wagnerhymniker Pierre Boulez durch die Aufforderung, alle Opernhäuser zu sprengen, dafür sorgen wollen, dass Wagners Ingenium nicht mehr aufs Theater beschränkt werden darf, sondern auch „im realen Leben“ der Menschen wirksam wird durch die Erzwingung der Einheit von Menschlichem und Göttlichem, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Diesseits und Jenseits. Summa: Der deutschen Ideologie wird heute weltweit auch von kleineren Potentaten gehuldigt – in einem Ausmaß, dass demokratisch, liberal und rechtsstaatlich verfasste Gesellschaften weltweit nur noch eine rare Minderheit sind. Was tun? Wir Deutschen jedenfalls sollten das deutsche 20. Jahrhundert widerrufen und die von Nietzsche formulierte Aufgabe einer schweren Entdeutschung auf uns nehmen.

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