Buch Kritik der kabarettistischen Vernunft

Ein autobiografisches Scherbengerücht. Band 1

Kritik der kabarettistischen Vernunft. Ein autobiografisches Scherbengerücht, Bild: Berlin: Distanz, 2016..
Kritik der kabarettistischen Vernunft. Ein autobiografisches Scherbengerücht, Bild: Berlin: Distanz, 2016..

Bazon Brock bedankt sich mit diesem Buch bei allen, die ihm seit Jahrzehnten Gelegenheit boten, sie zu würdigen! Denn Würde hat nur, wer zu würdigen weiß. Das ist der Ruhm des gescheiten Mannes. Die bedeutendste Form des Würdigens ist die Kritik; wer kritikwürdig ist, wird darin ernst genommen und Kritik entwickelt sich aus dem Streit der Meinungen, nicht aus der Behauptung von wahrem Wissen oder vom Wissen der Wahrheit. Die lässt sich nur aus den Ruinen, den Trümmern, den Scherben, die übrig blieben, erahnen. Die Wahrheit ist ein Scherbengerücht, wissen die Archäologen menschlicher Lebenswelten.

Bazon Brock ist ein verführender, also führender Polemosoph. Ein Denker im Dienst gegen Gemeinheit, vor allem die Allgemeinheit. Ja, ist es denn nicht hundsgemein, dass für die Historiker die Rangfolge der bedeutendsten Persönlichkeiten von der Zahl der Leichen bestimmt wird, die sie zu hinterlassen wussten? 15 Morde – lächerlich –, das ist eine lokale Auffälligkeit für zwei Tage; erst bei 1,5 Millionen Toten beginnt der Aufstieg in die Bestenliste, die heute Mao, Stalin und Hitler mit mindestens 40 Mio., 20 Mio. oder mit 15 Mio. Toten anführen.

Von diesen Herren der Geschichte redet alle Welt seit Jahrzehnten und für die nächsten hundert Jahre. Sie haben es geschafft, die Hall of Shame zur Hall of Fame werden zu lassen.

Erschienen
01.01.2016

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-163-0

Umfang
440 S.

Einband
Gebunden

Seite 212 im Original

Siegfried Kracauer ist tot.

Ich protestiere [1967]

Wir wissen, was wir dem journalistischen Ausschluß dessen verdanken, was über den Tag hinaus will.
Was ist, soll schon nicht mehr gelten, geschweige, was war. Das befreit uns aus zwingenden Ansprüchen, die Geltungen gegen uns selber auch noch rechtfertigen zu müssen. Unser Unglück dadurch nur noch zu verstärken, daß wir vorgeben, es zu verstehen. Denn so habe es eben kommen müssen, das sei nun mal der Lauf der Welt.
Was journalistischen Gepflogenheiten zufolge, was seinen Ansprüchen gemäß täglich ein anderes sein soll, ein Neues, Unerhörtes, Niedagewesenes, könnte hilfreich sein. Und ist es: soweit diese Ansprüche aufs Neue es selbst erst bewirken; wenn die Erfordernis nach Information diese selber erst bereitstellt. Ein Galeriebesitzer, ein Modehäusler, ein Filmemacher, ein Hersteller wissen, was das heißt, und zittern vor der Pressekonferenz, in der sie gezwungen sein werden, den Unterschied zu gestern, zur letztjährigen Produktion, zur vergangenen Saison zu formulieren.
Nun aber (leider) begründet diese Sphäre ihre Praktiken eben mit dem Gelten des angedeuteten Zusammenhangs, daß zum Beispiel über einen bestimmten Sachverhalt nicht weiter nachgedacht oder gar geschrieben zu werden brauchte, weil er keinen Innovationswert mehr besitze, der Neuigkeitsreiz mit den siebzehn Zeilen von gestern oder vorgestern bereits abgeschöpft sei.
Oder aber, daß es normative Geltungen gebe, über die eben deswegen nicht mehr zu handeln sei, weil sie sich jedermann ohne weiteres ergäben.
Als ich telefonisch aufgefordert wurde, zum Tode Kracauers erst fürs Februarheft zu schreiben, hörte in meinem Zimmer ein Freund beiläufig mit. Er verstand nicht recht. Ich sagte; "Kracauer ist tot" ‒ er drehte sich plötzlich um: "was, schon wieder?". Ein im November verstorbener Kracauer konnte nicht im Februar nochmals sterben, soweit er eben nur starb, solange das niemand wußte. Das Neueste von Kracauer - und dann bloß tot. Immerhin, nichts Neues würde mehr von ihm so zu berichten sein. Wenig Neues ist das für den Februar, eine matte Sache für einen Schreiber.
Denn eben, daß man stirbt, hat Geltung für jedermann ‒ einige Leute wissen sich mit dem Zeitpunkt interessant zu machen. Onkel Pablo wird sicherlich demnächst sterben, darüber wird kaum ein Gerede angestimmt. Wenn es dann soweit sein wird, macht das Schlagzeilen. Und für einsfuffzig die Zeile auch Geld. Schlechte Zeilen, mit unfaßlicher Trauer und ewigem Genie und so. Wenn die Tatsache, daß so jemand stirbt, zu einer privaten gemacht wird, über die man kein Wort verliert, dann sollte man auch den Zeitpunkt und die Umstände zu seiner privaten machen ‒ zumindest zu einer authentischen. Man sollte jedermann seinen eigenen Nachruf schreiben lassen und sich damit begnügen. Denn man glaubt ja ohnehin, daß sich an der Tatsache des Todes nichts ändern läßt.
Ich hingegen kann mich schlecht bescheiden bei solchem normativen Gelten, will mich nicht abfinden mit den Umständen, die an der Leiche nichts ändern. Und auch damit nicht, daß ich die Umstände mildere, indem ich dem Toten versichere, in welchem unwidersprochenen Maße er in, um, mit mir weiterleben wird, weil er ein so großer war, so bedeutend.
Diese klägliche Bereitschaft, die Leiche zu akzeptieren, wenn sie nun einmal da ist; dieses verdammte Eingeständnis der natürlichen Determination: das sei der Lauf der Welt. Die Natur lassen wir da "zu ihrem Recht kommen" als das Stückchen Dreck, als die Handvoll zermahlenen Staubs. Stoffwechsel heißt man diese Schweinerei, mal in den Nachttopf, mal in die Urne. Ein Geschäftchen machen, der Tod ist ein schweres Geschäft. Schwer sagt man, aber doch unabänderlich. Jedem seine Zeit zum guten Maß. Am Ende sei doch alles gleich, niemand könne übers Grab hinaus.
Wenn das auch in finsteren Zeiten als Drohung der Religion gegen die Herrschaften manchen Sinn gehabt haben mag, so hat das längst seinen Sinn nicht mehr, ist nicht mehr rationalisierbar, es sei denn als Drohung der Herrschaften gegen die Abschaffung des Todes. Denn der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen läßt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlaß des Todes Siegfried Kracauers ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, läßt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen.
Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen. Man darf keinen Anlaß bieten, über die Toten Gutes zu reden: ihr Zustand würde verlocken. Todesanzeigen sollten verboten werden ‒ kein Vorwand mehr, sich selbst für später anzubieten. Sprecht schlecht von den Toten, beschimpft sie, wütet gegen diesen Fall von Unvermögen, und Ihr werdet schneller bereit sein, Euch davon abzuhalten, das Gelten der Determination weiterhin anzuerkennen. Der Tod ist ein Skandal, eine viehische Schweinerei! Sagt das täglich vor dem Frühstück, schreits Euren Oberen in die Ohren, dem Gesetzgeber, Euch selbst. Man will Euch widerlegen, man will Euch bändigen, da Ihr doch alle sterben müßt.
Laßt Euch nicht darauf ein, versteht: der Tod Siegfried Kracauers ist wie jeder ein ungeheuerlicher Skandal, gegen den ich protestiere.
Mit dem üblicherweise anempfohlenen Abstand gesehen, werden wir noch alle ins Gras beißen. Wer sich nach obigen Empfehlungen einige Zeit trainiert, tritt der 'Gesellschaft zur Erforschung der Zukunft' bei, als deren einer Präsident unter Präsidenten ich den Kongreß 'Leben ohne Tod' vorbereite.

siehe auch: