Magazin ZYMA ART TODAY

ZYMA ART TODAY, 2/1994
ZYMA ART TODAY, 2/1994

Erschienen
1993

Herausgeber
Bühler, Dietrich | Koegi, Anita

Verlag
Art Publishing

Erscheinungsort
Stuttgart, Deutschland

Issue
2/1994, Juni/Juli.

Seite 8 im Original

II. Neuronale Ästhetik

von Bazon Brock und Olaf Breitbach

„Die uns zugängliche Welt ist die Realität des Anschauens. Anschauen ist aber nichts Passives. Die Anschauung realisiert sich im Gehirn. Eine Ästhetik, die verstehen will, was und wie wir sehen, das heißt, wie wir uns in unsere Welt finden, muß damit eine neuronale Ästhetik sein. Nicht das Resultat, das stehende Bild, sondern der Vorgang der Verbildlichung, in dem sich die Wahrnehmung generiert, versichert diese der Realität, aus der heraus wir unser Wahrnehmen fundieren können. Die Anschauung wird durch Anschauung erweitert.“

Die uns zugängliche Welt ist die Realität des Anschauens. Anschauen ist aber nichts Passives. Die Anschauung realisiert sich im Gehirn. Eine Ästhetik, die verstehen will, was und wie wir sehen, das heißt, wie wir uns in unsere Welt finden, muß damit eine neuronale Ästhetik sein. Eine neuronale Ästhetik kann nun das Nervengewebe nicht einfach als Übersetzungsmaschinerie betrachten, in der ein komplex strukturiertes Außen in den hirneigenen Sprachcode der neuronalen Physiologie transformiert wird.

Verdeutlichen wir uns zunächst, was schon auf der ersten Ebene des 'Wahrnehmens' geschieht. Ein Anstoß der Sinne wird unabhängig von seiner physikalischen Qualität in die immer uniforme 'Sprache' der Nervenzellen umgesetzt, in der von der Qualität dieses Außen nichts zu erkennen ist. 'Was' registriert wurde, wird allein dadurch definiert, daß eine durch einen Außenreiz initiierte Aktivierung in festgelegten Bahnen über eine Kette von Nervenzellen an einen bestimmten 'Ort' im Hirn geleitet wird. Auch ein Faustschlag auf das Auge läßt uns etwas - wenn auch nur wenig Strukturiertes - 'sehen'. Die Sinneszellen werden durch den Schlag deformiert, reagieren und werfen eine Erregungstransferkaskade an, an deren Ende die hirneigene Verrechnung registriert: Das Auge meldet sich, also sieht man - Licht. Ein Außenreiz im Hirn wird also nicht einfach abgebildet. Das Hirn ist nicht tot, ehe es, von den Erregungsschüben etwa solch eines Faustschlages geweckt, zu einer ersten Aktivität findet. Ein 'Etwas' im Außenraum, das sich im Hirnorgan 'repräsentiert', bindet sich dort in ein Ping-Pong-Spiel von binneninduzierten Erregungsschüben ein. Die Erregungsschübe des 'Innenraums' sind in genau dem Code formuliert, in dem auch der Außenreiz schon nach dem ersten Schritt seiner Passage über die Sinne gefaßt wird. Ein derartig in das Gehirn eingebundener 'Neueingang' wird in diesem Auf und Ab der hirneigenen Erregungsschübe gewichtet. Er stößt in dem Gefüge der Elemente neue Kombinationen an. Trifft er damit in ein nicht schon zu festgefahrenes Eigenbestimmungsverhalten, kann er die Erregungstextur des Hirngewebes lokal verändern.

Das Hirn 'entdeckt' damit dann etwas 'Neues' in sich selbst. In diesem 'Außer-Phase-Setzen' wird im Hirn das Außen wahrgenommen.

Im Hirn finden wir Bereiche, die sehr dicht an Sinnesorgane gekoppelt sind. Doch in anderen Bereichen der Hirnrinde streut die Erregung sehr rasch in sogenannte assoziative Bereiche hinein. Auch dort warten die Nervenzellen nicht stumm auf eine etwaige Erregungseingabe. Vielmehr stehen die Nervenzellenbereiche fortwährend 'unter Strom'. Eine Fülle von vormaligen 'Reizungen' haben schon immer eine Binnencharakteristik definiert. Die 'Eingaben' lagern sich dem binneninduzierten Erregungsniveau auf, können dieses unter Umständen neu wichten, Gleichgewichtszustände in dem hirneigenen Erregungsraum verschieben und so in dem hirneigenen Erregungsgefüge etwas für dieses 'Neues' induzieren. Solch eine 'Neuheit' können wir dann als Außen erleben. Das als Außenwelt erlebte Ereignis im Kopf ist eine neue Erregungsphase in den komplex ineinandergreifenden Funktionsweisen des Hirngewebes. Die Wahrnehmung ist subjektiv; objektiv wird sie uns, wenn wir das Substrat begreifen, in dem sich dieses Wahrnehmen formiert. Wir können dieses Subjekt nun sezieren und dann im offen liegenden Hirnapparat einzelne Momente dieses Subjekts bestimmen. Doch greifen wir damit in ein totes Gefüge, in dem die Einzelreaktionen aus dem ganzen offensichtlich schon herausgelöst sind. Wir benötigen hier ein Schema, das uns die Struktur konturiert, in die wir diese Einzelheiten einzubinden haben, um aus ihnen heraus das Ganze zu fassen. Was heißt hier Ganzes? Muß das Hirn, zumindest die Hirnrinde als Einheit verstanden werden? Die alte Annahme, das Ganze des Gehirns sei eine Addition lokaler Einzelheiten, ist aufzugeben. In der Wahrnehmung bilden wir nichts objektiv ab, sondern der Hirnprozeß selber ist objektivierend. Dadurch, daß alle Hirne nach den gleichen Mechanismen funktionieren, gewinnen wir Objektivität, die uns in einen Diskurs des Denkens mit sich selbst eintreten läßt. Wir müssen aber festhalten, daß damit die alte Unterscheidung Subjekt-Objekt auf der neurophysiologischen Ebene hinfällig wird.

Schon die Analyse assoziativer Funktionen in hochparallel arbeitenden Rechnern zeigt, daß diese Systeme als Funktionseinheiten verstanden werden müssen, selbst wenn wir diese Systeme über die Addition von Modulen aufbauen. Wir können Simulationsmodelle finden, die uns die Systemeigenschaften des Hirngewebes verdeutlichen. Wir gewinnen damit Vorstellungen über die Verrechnungseigenschaften des Hirngewebes, die von der grundlegenden Eigenschaft der Hirnrinde ausgehen: einer komplexen, nahezu chaotisch erscheinenden Vernetzung der in ihr präsenten Nervenzellen. In einem Vorgehen, das die Vielfalt der in diesem Gewebe verknüpften Teilreaktionen in den Blick nehmen will, führt ein rein reduktiv-analytischer Ansatz nicht weiter. Wir müssen hier in eine neue Ebene eintreten, die auch der Veranschaulichung Raum gibt. Das Medium für solche Veranschaulichung gibt der Computer. Der Code, in dem unsere Vorstellungen zu fassen sind, findet sich in den von ihm generierten Bildern. Diese Bilder sind farbig, sie sind digital, sind komplex, fraktal und chaotisch, haben also all das an Anschaulichkeit an sich, an dem wir das Leben einer Natur dingfest machen. Ist das, was sich in den Bildschirmen der Computer zeigen kann, damit nicht schon selbst artifizielles Leben? Wird die Ästhetik des Bildes damit zu dem neuen Raum, in den wir den Horizont setzen, um uns und unser Wahrnehmen zu inszenieren und damit wahrhaft zu objektivieren?

Die digitalen Bilder formen sich in einer Maschine, also in einem Substrat, das nach mathematischen, exakt nachzufassenden Regeln konstruiert ist. Gewinnen sie aber allein schon damit eine analytische Dimension, über die das Wahrnehmen aus der Enge des auf sich selbst verwiesenen Denkens hinausgeführt wird? Das Instrument des Computers erlaubt uns, mathematische Operationen zu verbildlichen. In den damit gewonnenen Skizzen können wir uns die Dynamik auch komplexerer Interaktionen - im expliziten Sinne - vorstellen. Dabei gewinnt die Anschauung in und mit diesem Medium eine analytische Funktion. Die Vielfalt von Überlagerungen in den wechselwirkenden Funktionskreisen, wie sie in einer Simulation vorstellbar ist, wird im Modell augenfällig. Ihre Dynamik wird analysierbar. Die Sequenz und die Wechselwirkungen der diese Dynamik aufbauenden Determinanten sind zwar prinzipiell auch in einem reduktiv analytischen Vorgehen, die Dynamik eines derart im Computerprogramm simulierten Systems experimentell anzugehen, Parameter zu variieren, den Effekt der Erregungsverlagerungen zu studieren, verschiedenste Kombinationen auszutesten und so den Computer als Skizzenblock zu benutzen, der aus der Enge des nur diskursiven Abarbeitens von Einzelzuständen hinausführt.

Die für die herkömmliche Analyse auftauchenden Probleme sind quantitativer Art; allein die Dauer einer analytisch reduktiv geführten Berechnung würde es nicht mehr erlauben, die Dynamik der im Modell studierbaren Systeme auch nur vorzustellen. Damit ist die Bewertung von Variationen, der Einblick in die Bedeutung von Parameterkonstellationen, nur in der Anschauung möglich. Das Bild erlaubt mir zu entscheiden, ob und wo ich gegebenenfalls einen Teilaspekt auslöse, um ihn in einer strikten, analytischen Untersuchung zu betrachten. Die Anschauung leitet somit aus den Zwangsführungen des Diskursiven heraus. Das Verhalten auch komplexer interaktiv verzahnter Reaktionen wird analysierbar. Die Simulation gewinnt analytisches Gewicht. Mit dem Skizzenblock Computer kann die Anschauung den Rationalismus aus seiner Enge heraus in ein offenes Feld der Analytik setzen, das der Ratio 'Platz' gibt, auch organisch ineinandergreifende Teilräume systematisch zu studieren. Die Ratio erweitert sich, indem sie auf die Anschauung vertraut. Diese 'intellektuelle' Anschauung, das Vorstellen dessen, was in der Sukzessivität rein begrifflicher Operationen nie als Ganzes in den Blick kommt, eröffnet der Ratio einen neuen Horizont. Der Computer bietet das Instrumentarium, den Weg zu einer derart analytisch figurierenden Anschauung zu finden.

Die im Computer generierten Bilder objektivieren unsere Vorstellungen. Sie setzen uns eine 'Realität' vor Augen, an die nun wieder eine Analysis anzusetzen ist, um die sich in dieser Bildrealität explizierenden Vorstellungen zu bewerten. Damit werden uns auch hochgradig interaktive Systemzustände - etwa in unserem Nervengewebe - greifbar. Wir stehen hier am Beginn eines Weges, der uns das Vokabular an die Hand geben wird, derartige Systemzustände nicht mehr nur in der Reduktion (auf einen, unserer derzeitigen Analysis faßbaren Pararmeterraum, etwa den Reaktionen nur weniger Neuronen), sondern in der ihnen eigenen Organik, in der Darstellung des Gesamterregungsverhaltens ganzer Funktionseinheiten der Hirnrinde, zu begreifen. Das hypothetisch gesetzte Gedankenkonstrukt wird erst in der Veräußerlichung, die es einer Anschauung verfügbar macht, dem denkenden Subjekt wirklich zu eigen. Die rationalistische Verengung der Ratio, die nicht einmal sich selbst trauen zu dürfen meinte, wird in dem Bild, was sie nun von sich selbst zu zeichnen vermag, aus der Schale herausgebrochen, in der sie sich versteckt hatte.

Wir fanden schon auf der physiologischen Ebene, daß Wahrnehmen ein komplexer Prozeß ist, indem das Organ, aus der ihm eigenen Bestimmung heraus, einen Erregungszustand gewichtet. Die Realität des Außen wird nicht erst in einer - wie auch immer zu definierenden - Reflexivität, sondern schon in der ersten Aufnahme der Sinnesdaten verformt; die Realität des Außen wird in die Realität des Hirns gesetzt. Die Struktur des Wahrnehmungsapparats kategorialisiert in ihrer Eigenbestimmtheit dasjenige, das wir dann als das Objektive verstehen lernen. Das dies 'Objektive' fundierende Außen der Welt wird aber nicht völlig aufgehoben, vielmehr wird es in eine neue Objektivität, die Realität des Hirngewebes transformiert. Dies läßt sich fassen; die hier wirksamen Teilmechanismen lassen sich isolieren. Die Gesamtreaktion des in der Analyse dann zum Objekt werdenden Hirns sind zu veranschaulichen. Sie werden in der Simulation verdinglicht. Der Exkurs in diese dritte - mediale - Dimension zahlt sich damit aus. Die Dynamik in der Funktion der neuronalen Struktur wird veranschaulicht. Das Wahrnehmen wird sich Objekt. Die Ästhetik kann sich in dem ihr veranschaulichten Neuronalen selbst objektivieren. Wir können die Augen wieder öffnen und unserer Anschauung trauen.

Verlebendigt sich uns die Welt erst über die Medien? Wird das Bild, heute das der Computer, demnach zu der neuen, höheren Realität, dem sich die Ratio zu überantworten hat? Die Außenversicherung des Rationalen ist uns in der Anschauung direkt augenfällig. Die Skizze einer Denkrealität gewinnt erst in ihrem Bild die Konturen, die sie beurteilbar macht. Durch den Computer ist damit aber nichts prinzipiell Neues gewonnen. Der uns hier verfügbare Skizzenblock ist modern, technisch aufwendiger gestaltet als die alten Verbildlichungsmedien. Aber wie auch in Leonardos Zeiten lebt er von Erkenntnisprogrammen, die sich in ihm verwirklicht finden. Das Leben des Computers ist ebenso erborgt wie das eines Blattes des Codex Windsor.

In einer Bewertung der Bildmedien und der Bildgebungsverfahren ist die moderne Kunst der Wissenschaft voraus. Sie hat ihre Erfahrungen mit dem Umgang und auch mit der Leugnung des Bildes hinter sich. Ihr in der Mitte des Jahrhunderts beginnender Rückzug aus dem Bild, ihr Verzicht auf die Darstellung - die Reduktion des Sinnlichen auf das sich in sich spiegelnde Da (Dada) - war nur als Kontrapunkt zum 'Realismus' plausibel. Indem das nichtbildende Denken inszeniert, ins Bild gesetzt war, produzierte es wieder neue Bilder. Das Postulat der Bildlosigkeit wurde ins Bild erhoben.

Wir stehen mit den Neuen Medien in einer vergleichbaren Situation. Wird der Skizzenblock automatisiert, stelle ich allein seine 'Seiten', sein Material heraus, gewinne aber nichts als Design. Die Ausstellung der Palette wirkt in der Vielfalt von Farben noch dekorativ. Eine Bildrealität wird aus diesen changierenden Materialien nur, wenn wir sie für eine Skizze nutzen, die dann mehr abbildet als die Möglichkeiten der Apparatur. Die virtuellen Realitäten sind nicht aus sich lebendig. Ihr artificial life ist die sich entäußernde Mechanik des Computers.

In einem konstruktiven Ansatz wird das Instrumentarium der Anschauung operationalisiert. Nicht das Resultat, das stehende Bild, sondern der Vorgang der Verbildlichung, in dem sich die Wahrnehmung generiert, versichert diese der Realität, aus der heraus wir unser Wahrnehmen fundieren können. Genau hier können wir denn auch den Kreis zurück zur Neurophysiologie schließen. Nur im Prozeß der Erregungsgewichtung repräsentiert sich das Außen. Nur dann, wenn wir diese Dynamik des neuronalen Programms verstehen, können wir unser Wahrnehmen erfassen. Genau in diesem Punkt hat die Ästhetik neuronal zu werden.

Um uns in der Natur zu finden, haben wir uns hier ins Bild zu setzen.