Buch Die Zweite Moderne

Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart

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Am Ende des 20. Jahrhunderts weisen Tendenzen in den Künsten und der Architektur auf eine "Zweite Moderne" hin, wobei Videofilm und Video-Installation eine besondere Rolle spielen. Kontrovers diskutieren namhafte Vertreter der Kunstszene und renommierte Wissenschaftler, Philosophen und Publizisten wie E. Beauchamp, H. Belting, P. Iden, W. Rihm oder P. Sloterdijk die Stellung der Kunst der Gegenwart.

Erschienen
01.01.1996

Autor
Klotz, Heinrich

Verlag
Beck

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-406-40742-0

Umfang
190 S.

Einband
broschiert

Utopie und Uchronie

Mit Verweis auf die angesprochene Selbstbeschränkung, also mit schamroten Wangen, beziehen wir uns immer noch und immer wieder auf den Fortschritt in der Geschichte, also das Akkumulieren und Verdichten von modernen Haltungen in dem Maße, in dem Gegenwarten sich auf eine Vielfalt von Vergangenheiten zurückbeziehen können. Fortschritt kennzeichnet die Annahme einer Optimierung der Modernität, so weit sie schon selber historisch geworden ist. Wir können sagen, der Fortschritt besteht als eine immer umfassendere und zugleich differenziertere Vergegenwärtigung von Vergangenheiten. Das lässt sich empirisch überprüfen. Für den Bereich der Künste heißt das, die Epochen daraufhin durchzumustern, welche Formen des Präsenthaltens von Vergangenem sie ihren Zeitgenossen zur Verfügung stellten - religiöse, politische, soziale und kulturelle Institutionen. D. h. ein modernes Zeitbewusstsein bedarf gesellschaftlich konventionalisierter Mechanismen, sich die Vergangenheit als Voraussetzung einer offenen Gegenwart präsent zu halten.

Unter den letzteren sind seit 200 Jahren Neuentwicklungen wie Museen und Akademien und universitär betriebene Wissenschaften auffällig, die sich ausdrücklich dem Wirksamhalten von historischen Werken in der Gegenwart widmen. Es geht ihnen nicht um eine akademische Pietät, das Tote und Abgeschiedene als solches zu klassifizieren, sondern es in seiner Bedeutung für die Lebenden zu aktualisieren. Man hat diese Schöpfung von Zeit als Erweiterung der Gegenwart um die Dimensionen geschichtlicher und zukünftiger Zeiten als Chronopolitik gekennzeichnet. In der Tat ist Kulturpolitik in der Einrichtung von Bildungs- und Ausbildungsstätten, von Museen und Hochschulen, in ihrem Kern auf die Produktion von Zeit und Zeiterfahrung als Mittel des Weltverständnisses und der Aneignung ausgerichtet. Historisch denken zu lernen, heißt, die eigene Gegenwart unter zukünftigen Entwicklungen, als zukünftige Vergangenheit zu sehen und entsprechend in ihr zu wirken.

Seit Giorgio Vasaris Viten und dem Geschichtlichwerden von Künstlerbiographien manifestiert sich die Fähigkeit zur Relationierung und Relativierung gegenwärtigen Handelns in einem neuen Topos (oder im Topos des Neuen), der Utopie. Das Strukturprinzip der Modernität ist seit Aristoteles an die Topik gebunden. In ihr - wie in allen Nachfolgemodellen der Rhetoriker - geht es um die Verortung der fließenden Zeit in der Zeiterfahrung der Individuen. Um Zeitlichkeit (zum Beispiel als Erzählzeit oder das Prozedieren bei der Erstellung von Urteilen) erfahrbar und nutzbar zu machen, topographierte man seit Aristoteles den intellectus agens, die mens, oder kurz, die memoria, also das Gedächtnis. Um sich in den eigenen Vorstellungen planvoll bewegen zu können wie der Bote auf dem Wege durch die Fremde, beschrieb man das Gedächtnis als eine Landschaft mit in sich geschlossenen auffälligen Gestaltungseinheiten, den topoi, deren Namen zugleich Themen der Erzählung oder der geforderten Gedächtnisleistung ausmachten. Mit der Verbreitung von Wissen über gedruckte Bücher verwandelten sich für die Humanisten des 16. Jahrhunderts (zum Beispiel für Erasmus) die Gedächtnisverortungen in Nichtorte, in U-topoi, die nicht mehr auf einzelne Träger des Gedächtnisses angewiesen sind. Die utopische Auffassung von Ideen, Themen und Methoden gehört zu den Optimierungsstrategien von Modernität. Die Moderne war utopisch, insofern ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und deren Anwendung nicht mehr auf individuelle Urheber, auf deren Kulturlandschaft und auf regionale Besonderheiten fixierbar blieben, sondern sich grenzenlos, ja bedingungslos für die gesamte Menschheit zur Geltung bringen konnten.

Die systematische Verselbständigung des Wissens und seiner Funktionalisierung führte zu einer Entgrenzung der Räume bis zur beklagten Ort- und Heimatlosigkeit des modernen Menschen. Wir können heute dieses Utopischwerden der Welt gut nachempfinden in dem vergeblichen Versuch der Reisenden, von der Örtlichkeit ihres Aufenthalts noch durchschlagende Unterscheidungen ihrer Wahrnehmung und ihres Handelns abzuleiten. Wenn alle Zentren moderner Städte auf der ganzen Welt hohe Ähnlichkeit kennzeichnet, wenn die dort verwandten Technologien, die Produkte, die angebotenen Hotels voneinander kaum noch zu unterscheiden sind, manifestiert sich der utopische Charakter der durch Selbstbezüglichkeit optimierten Moderne (vergleiche reflexive Moderne bei Ulrich Beck). Die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs Utopie als ein Nirgendwo erweist sich, wie historisch angelegt, als ein tatsächliches Überall. Und das hat sich für die erste Phase unseres Jahrhunderts, in der das Prinzip Modernität reflexiv gesteigert wurde, auch tatsächlich erwiesen. Unterschiede im Grade der Modernität lassen sich nur noch durch Zeiterfahrung ausmachen.

Ein Beispiel: In südostasiatischen Großstädten (obwohl so utopisch wie die westlichen) herrscht doch noch eine andere Chronopolitik, eine weniger moderne. Die Traditionen, die sie zu vergegenwärtigen vermögen, sind noch auf wenige religiöse, ethnische und kulturelle Muster beschränkt. Erst langsam etablieren sich die Institutionen der Zeitschöpfung, die Museen, die wissenschaftlichen Institutionen (neben Kirchen, Kultzentren und herrschaftslegitimierenden Bauten und politischen Regelsystemen). Sie sind, obzwar schon utopisch, erst in rigide eingeschränkter Weise auch uchronisch.

Eine erste Ausbildung von Uchronie verdanken wir Louis Sebastien Mercier, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Romanhandlung in das Jahr 2040 verlegte. Mercier ging es um die Frage, was aus utopischen Projekten wird, wenn man sie realisiert, also verortet bei gleichzeitiger Annahme eines anthropologisch konstanten Verhaltens der Menschen. Uchronisch, zeitlos in Geltung, sind dabei alle Annahmen, die Menschen für selbstverständlich halten, in die sie bereits hineingeboren werden, und die auch unter utopischen Annahmen gesellschaftlicher, technischer, politischer Entwicklungen sich nicht verändern (zum Beispiel als Kategorien der Anschauung, der Orientierung in Raum und Zeit).
Die Natur des Menschen ist uchronisch, sie wird von historischen Prozessen nicht tangiert, und demzufolge bleiben auch die religiösen oder philosophischen Grundorientierungen auf Gott oder Natur erhalten.

Hundert Jahre nach Mercier entwickelte Charles Renouvier expressis verbis die Uchronie als Topos der Geschichtsschreibung. Er überlegte, welche Entwicklung die Geschichte genommen hätte, wenn in den Vergangenheiten etwas anders gelaufen wäre, als es gelaufen ist. Die Frage ‚Was wäre, wenn...?’ fasst aber nur einen Teilaspekt des Uchronischwerdens von Geschichte. Im Präsentismus kommen zu den Aspekten der Uchronie, die seit Mercier erörtert wurden, weitere hinzu. Die Einmaligkeit der Jetztzeit als Gegenwart wird zu der Erfahrung von Jederzeit. Wie sich die Utopie als Nirgendwo im Überall manifestiert, so erweitert sich Uchronie des Niemals, der Beginnlosigkeit, zum Immer, in jedem Augenblick.

Im Präsentismus fasst der Begriff der Uchronie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Einheit der Zeit als Gegenwart in ihrer Unterschiedenheit als vergangene und zukünftige. Diese Einheit der Zeitdifferenzierung definiert das historische Bewusstsein. Es manifestiert sich nicht im bloßen Bewahren kultischer Traditionen, die das Werden und Vergehen als ewige Wiederkehr des Gleichen feiern und so auf die Zukunft verzichten.